
„Kann man in diesen belasteten Zeiten als Kirche überhaupt feiern?“ Diese Frage der Pfarrgemeinderats-Vorsitzenden Waltraud Brod gehörte zu den vielen bemerkenswerten Attributen beim Neujahrsempfang der katholischen Tutzinger Pfarrgemeinde St. Joseph. Dann aber betonte die Vorsitzende sogleich: „Wir alle sind Kirche“. Und sie fragte weiter: „Kann ich mich ganz zurücklehnen und mit dem Zeigefinger auf andere weisen oder bin ich selbst Teil dieser Gemeinschaft?“ Schließlich die Antwort: „Wir - Sie - alle sind mit verantwortlich, dass die Kirche lebendig bleibt.“ Der Anspruch an die Kirche sei hoch, „wahrscheinlich höher denn je“. Es lohne sich, sich einzusetzen für ein starkes, wohlwollendes Netz im Namen von Jesus Christus.“
Die nachdenklich stimmenden Bemerkungen bezogen sich auf das Thema, das zurzeit in der Kirche für Gesprächsstoff sorgt wie kein anderes: den Missbrauchsskandal. Der kurz vor Weihnachten in dieser Angelegenheit verschickte Brief des Pfarrgemeinderats an Kardinal Reinnhard Marx, den Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, lag im Eingangsbereich des Roncallihauses aus, jeder konnte ihn mitnehmen. Mit diesem Vorstoß haben die Tutzinger weit über diese Gemeinde hinaus für Aufsehen gesorgt. Aufsehen erregender Tutzinger Vorstoß Aus etlichen anderen Pfarreien haben sie Zuspruch erhalten, nicht wenige Katholiken vermissen ähnlich kritisches Engagement in ihren Pfarreien.
Nachdenklich stimmten auch viele andere Äußerungen bei diesem Empfang. So fand ein Grußwort von Bürgermeisterin Marlene Greinwald viel Beachtung: Sie befasste sich mit der Frage, ob die Menschen heutzutage überhaupt noch zuhören, ob sie wahrnehmen, was um sie herum passiert. Und auch die Bürgermeisterin richtete diese Frage an die Amtskirchen, zumindest an deren „Obere“: „Hört ihr das Stöhnen eurer Pfarrer und Priester, die Nöte vieler Pfarrkinder, hört ihr wirklich mit dem Herzen hin oder zuckt ihr ratlos mit den Schultern, wenn sich immer mehr verzweifelt von ihren Kirchen abwenden, weil sie keine Antworten auf ihre Fragen bekommen oder mit diesen nicht umgehen können?
Pfarrer Brummer: "Ich halte die Sternsinger für eine hervorragende Erfindung"

Die derzeit verbreitete kritische Stimmung konnte aber nicht das sehr aktive, interessante und vielfältige Gemeindeleben überdecken, das dieser Neujahrsempfang ebenso widerspiegelte. Pfarrer Peter Brummer sprach von einer Vielfalt, ja von einem Reichtum an Menschen in Tutzing aus einer großen Zahl verschiedener Nationen. Er freute sich über den guten Zusammenhalt der Menschen in Tutzing, der verschiedenen Generationen, der Starken und der Schwachen, „in der Freude der Glaubensgemeinschaft und des kirchlichen Lebens“. Aktuell äußerte er sich auch sehr angetan über die Sternsinger-Aktion: „Ich halte die Sternsinger für eine hervorragende Erfindung, weil sie zu den Menschen in die Häuser gehen.“ In anderen Orten wie Pöcking, Feldafing oder Weilheim kämen sie leider nur noch auf Abruf.
Wie das Leben in dieser Pfarrgemeinde regelrecht pulsiert, das führten Theresa Feldhütter und Hanna Krause den Besuchern mit einem Überblick in Bildern vor Augen. Das von Rita Niedermaier ideenreich zusammengestellte Foto-Potpourri wurde zum unterhaltsamen Streifzug durch ein ereignisreiches Jahr 2018 mit den zahlreichen Aktivitäten, die von der Pfarrgemeinde ausgehen und weit ins gesamte gesellschaftliche Leben hinein reichen – von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung über den Frauenbund bis zum Pfarrgemeinderat, von der Erstkommunion und der Firmung über die Feier zum 125-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit von St. Joseph bis zum Ministrantentag und zwölf neuen Ministranten, den „Minis“, von Konzerten über Reisen nach Schottland und Rom, Wallfahrten nach Altötting und Andechs, Fahrradtouren und der Taizé-Fahrt über das Familiennetz, Vorträge, Ausstellungen, die Seniorengruppe 65plus und die Nacht der 1000 Lichter bis zu einem ein neuen Arbeitskreis „Spriritualität in Bewegung“ mit sportlichen Akzenten.
Einen besonderen Stellenwert nahm bei diesem Neujahrsempfang die Verabschiedung vom langjährigen Kirchenpfleger Alfons Mühleck ein. Pfarrer Brummer nannte ihn eine Säule der Pfarrgemeinde: „Da kann man sich auch als Pfarrer gut bewegen, wenn man die finanziellen Dinge in besten Händen weiß.“

Vor einer Demonstration plakativer Aufrufe im Roncallihaus: (vorn von links) Tutzings Vizebürgermeisterin Elisabeth Dörrenberg, der Bernrieder Bürgermeister Josef Steigenberger, die Tutzinger Bürgermeisterin Marlene Greinwald, Ruth Schönenberger, die Priorin des Tutzinger Klosters, Pfarrer Peter Brummer, der langjährige Kirchenpfleger Alfons Mühleck, Pfarrerin Beate Frankenberger, Udo Hahn, der Direktor der Evangelischen Akademie, und die Vorsitzende des Pfarrgemeinderats, Waltraud Brod.
Priorin Ruth Schönenberger zitiert Pippi Langstrumpf
Die Pfarrgemeinderäte brachten sich persönlich in die Veranstaltung ein. Auf Schildern demonstrierten sie mit plakativen Aufrufen, was sie für wichtig halten. Es waren Schlagworte, die sie einzeln durch kurze Bemerkungen mit Leben erfüllten. Dabei spannten sie den Bogen vom vielfältigen Dienst am Menschen mit der Ambulanten Krankenpflege, Besuchsdienst und der Tafel „Tischlein-decki-dich“ über den Kulturpreis der Gemeinde Tutzing, den Kirchemusikerin Helene von Rechenberg im Dezember erhalten hat, bis zur Vernetzung, so mit der bereits vierten Lichterkette am 28. Januar. „Auftreten statt austreten“, lautete einer der Aufrufe - gerade angesichts des Missbrauchsskandals, erläuterten die Sprecher: „Wir Christen dürfen bei diesem kritischen Thema nicht schweigen.“
Die neue evangelische Pfarrerin Beate Frankenberger zeigte sich in ihrem Grußwort beeindruckt, was dieses Gemeinde alles auf die Beine stelle: „Es wird tatsächlich gelebt, es wird nicht nur gesprochen.“ Und sie fügte hinzu: „Ich habe den Eindruck dass ich am rechten Fleck gelandet bin.“ Beeindruckt äußerte sich die evangelische Pfarrerin auch vom Film des Regisseurs Wim Wenders über Papst Franziskus („Ein Mann seines Wortes“) - ganz besonders von einer Szene, in der er im kleinen Fiat unter lauter Riesenkarossen auftaucht: „Da erscheint die Macht auf einmal so lächerlich.“
„Wir freuen uns sehr, als Gemeinschaft in so einem Ort zu sein“, sagte die Priorin des Tutzinger Klosters der Missions-Benediktinerinnen, Ruth Schönenberger: „Wo zwei so lebendige Pfarreien sind, die keine Berührungsängste miteinander haben und die auch Positionen zu wichtigen Themen beziehen.“ Sie forderte die Besucher förmlich auf, auch mal Neues zu wagen – und zwar mit einem Zitat von Pippi Langstrumpf: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“
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in beiden Kirchen Pfarrer hat, die sich schier aufarbeiten, um ein lebendiges, in der Zeit stehendes und die Zukunft im Blick habendes Gemeindeleben in Schwung zu halten. Dass sie Ehrenamtliche genug finden, um christliche Gemeinschaft in großem Umfang realisieren zu können. Dass sie "liebe Deinen Nächsten" nicht als Schlagwort gebrauchen sondern - etwa im Kirchenasyl - praktizieren. Dass sie "zum Tisch des Herren" ohne Vorbehalte bitten. Dass sie Jugendarbeit auf vielen Ebenen machen, um die Chance zu verbessern, dass Christi Wort in Erfüllung geht "lasset die Kinder zu mir kommen".
Die Tutzinger können glücklich sein, ein solches Netzwerk der Vernunft und der Liebe zu besitzen.
Helge Haaser Passau