Von Gymnasium Tutzing

Die Unberechenbarkeit des Ausbruchs

Vulkanfotograf Martin Rietze gibt einer fünften Klasse des Gymnasiums Tutzing ein spannendes Interview

Wir gehen Hobbys nach, weil sie uns Spaß machen und uns einen Ausgleich zum Alltag bieten. Das gilt auch für die Freizeittätigkeit von Martin Rietze. Trotzdem ist seine große Leidenschaft ein klein wenig ungewöhnlicher und ein klein wenig gefährlicher als zum Beispiel Fußballspielen oder Reiten: Martin Rietze fotografiert seit vielen Jahren weltweit aktive Vulkane.

Im Deutsch-Buch für die fünften Klasse am Gymnasium Tutzing ist ein kurzes Interview mit dem in der Nähe von München lebenden Ingenieur abgedruckt. Da man noch weitere Fragen hatte, beschloss die Klasse 5b kurzerhand, Herrn Rietze über die auf seiner Homepage angegebene E-Mail-Adresse zu kontaktieren. Zur Freude aller antwortete er prompt. Das Ergebnis ist ein Interview mit spannenden Einblicken in ein faszinierendes Hobby.

Bei explosiven Ausbrüchen sind oft schon zehn Kilometer zu nahe

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Klasse 5b: Wie nahe sind Sie schon einmal an einen Vulkanausbruch herangekommen?

Martin Rietze: Das hängt von der Art der Ausbrüche ab. Nur bei gasarmen, effusiven Ausbrüchen kann man nahe herangehen. Und auch nur dann, wenn man Erfahrung hat und mit der extremen thermischen Abstrahlung umgehen kann. Bei Lavaströmen waren es etwa zwei Meter, bei erkalteter Kruste mit untenliegender Lava etwa zehn Zentimeter und bei der sehr langsamen Brockenlava hatte ich schon direkten Kontakt. Bei explosiven Ausbrüchen an hochviskosen Vulkanen sind aber oft schon zehn Kilometer zu nahe.

Klasse 5b: Haben Sie sich schon mal beim Fotografieren verletzt?

Martin Rietze: Nur minimal, ähnlich wie beim Bergsteigen fällt man mal über einen Stein oder schlägt sich wo an. Die Hitze kann mal ein kleines ungeschütztes Hautstück ansengen. Einzig die Gasbelastung ist auf Dauer ein Problem. Die Gasmaske schützt nur zu einem gewissen Grad und man kann sie nicht tagelang aufbehalten. So akkumuliert sich über die Jahre eine nicht unerhebliche Lungenbelastung.

Klasse 5b: Was machen Sie noch beruflich?

Martin Rietze: Da die Vulkanfotografie aufgrund der kostenlosen und massenhaften Verbreitung von Foto und Film im Internet kein besonders lukratives Geschäft mehr ist, bin ich froh über einen Hauptberuf. Ich arbeite in einer Firma für astronomische Ausrüstung, und dort speziell im Bau von Observatorien.

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In dem Moment war ich in Schockstarre und vom eigenen Lebensende überzeugt. Martin Rietze

Es muss einem völlig klar sein, dass es im Notfall keine Rettung geben kann

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Klasse 5b: Haben Sie Angst beim Fotografieren?

Martin Rietze: Eher im Gegenteil. Die Fotografie erfordert Konzentration und bildet ein emotionales Bindeglied zwischen mir und dem Vulkan, den ich dadurch ständig beobachte. Da ist der Hinweg zum Ausbruch oft mit mehr Angst verbunden, insbesondere wenn man mit der von vielen Parametern abhängigen Situation noch nicht gut vertraut ist und man oftmals noch keinen direkten Einblick in die riskante Zone hat. Natürlich gibt es immer Momente, wo die Situation schwer einzuschätzen ist und man sich klar ist, dass das Unfallrisiko sehr hoch ist. Hier bedeutet es, die Angst als guten Ratgeber zu nutzen, niemals den kühlen Kopf zu verlieren und sich der Angst passiv hinzugeben oder gar planlos zu fliehen. Relevant ist eine gut ausgeprägte Selbstverantwortung. Es muss einem völlig klar sein, dass es im Notfall keine Rettung geben kann, keine Versicherung greift usw. Ebenso, dass das Unglücksrisiko stellenweise deutlich höher liegt, als es der durchschnittliche Bürger einer Wohlstandsgesellschaft jemals bewusst eingehen würde.

Klasse 5b: Was war Ihr gefährlichstes Erlebnis beim Fotografieren?

Martin Rietze: Ein plötzliches tektonisches Erdbeben am Merapi Vulkan in Indonesien. Es destabilisierte den kubikkilometergroßen Lavadom des aktiven Vulkans, sodass dieser spontan zahlreiche pyroklastische Ströme generierte. Sie nahmen nur durch pures Glück nicht die drei Kilometer bis zu meinem Beobachtungsstandort. In dem Moment war ich in Schockstarre und vom eigenen Lebensende überzeugt.

Klasse 5b: Wie viele Vulkane haben Sie schon fotografiert?

Martin Rietze: Wohl an die 100, dabei etwa die Hälfte in Aktivität. Jedoch reist man zu manchen Vulkanen mehrmals, da die Aktivitätsform wechselt, die Jahreszeit einen anderen Rahmen schafft und sich auch der Vulkan oft sehr schnell verändert. Vulkane sind die am schnellsten wachsenden Berge der Erde.

Das Privileg, fesselnde Vorgänge mitzuerleben

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Klasse 5b: Was ist das Tolle am Fotografieren von Vulkanen?

Martin Rietze: Die Dokumentation einer einzigartigen Naturgewalt, auch von einem bekannten Vulkanologen als „The greatest Show on Earth“ bezeichnet. Es sind viele Interaktionsebenen vorhanden, die man bei keiner anderen Betätigung in der Art findet. Die Grenze des Möglichen verschiebt sich ständig, der Wechsel von endloser Geduld zu extrem schnellem Kraftaufwand und Einsatz wechselt in Sekunden. Toll ist auch das Privileg, fesselnde Vorgänge mitzuerleben, die vielleicht nur jeder millionste Mensch erlebt und die sich die Allermeisten nicht einmal vorstellen können.

Klasse 5b: Wenn ein Vulkan auf einem anderen Kontinent ausbricht, fliegen Sie dann immer gleich dorthin?

Martin Rietze: Im Prinzip würde ich gerne, aber das gelingt in immer wenigeren Fällen. Die selbstverantwortlichen Freiheiten nehmen in den westlichen Gesellschaften sehr schnell ab. Durchaus nötige Reglementierungen und restriktive Sperrungen zum Schutz von Unerfahrenen behindern auch Profis und die ausgeprägte Vollkasko-Mentalität führt indirekt zur Ausweitung von Verboten und Vorschriften. Daraus folgt, dass es von Jahr zu Jahr immer weniger gelingt. Insbesondere die Corona-Situation hat dies weiter verschärft.

Autofahrten bergen das größte Lebensrisiko

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Klasse 5b: Worin besteht die größte Gefahr bei Ihrem Hobby?

Martin Rietze: Im Allgemeinen durch die An- und Abreise, gerade Autofahrten bergen das größte Lebensrisiko. Hier reicht allein schon ein Blick auf die Statistik. Im Speziellen natürlich die Unberechenbarkeit jedes Vulkanausbruchs. Diese bewegt sich aber im Vergleich zu anderen Risiken erstaunlicherweise im Rahmen. Aus der Praxis genommen: Meine schwersten Unfälle oder Nahtod-Situationen hatte ich beim Autofahren, gefolgt von Gletscherbrüchen und Steinschlägen beim Bergsteigen. Erst an dritter Stelle liegen die kritischen Momente am Vulkan. Natürlich ist das etwas subjektiv und schwer zu verallgemeinern.

Klasse 5b: Wo waren Sie schon überall beim Fotografieren?

Martin Rietze: Auf allen sieben Kontinenten, zwischen - 200 bis 7000 Höhenmetern, in allen Klimazonen, manchmal in dichtbesiedelten Regionen, manchmal auf einsamen unbewohnten Inseln...

Die Klasse 5b bedankt sich für Ihre Antworten, Herr Rietze!

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Glossar

effusiv: durch Ausfließen von Lava entstanden
viskos: zähflüssig
tektonisch: hervorgerufen durch Bewegung der Erdkruste
pyroklastisch: bestehend aus heißen, rasend schnell talwärts strömenden Gasen, Asche und klastischem Gestein (Trümmergestein) vulkanischen Ursprungs

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Homepage von Martin Rietze: http://mrietze.com
2010 erschienenes Buch: Vulkane (Wissen im Quadrat)
Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von Martin Rietze

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