Es war ein Vormittag, der beim Publikum noch lange nachwirken dürfte. Im Rahmen der Dokumentarfilmreihe „Bauern, Brot und Zukunft“ zeigte das Kulturtheater Tutzing am 9. November Bertram Verhaags preisgekrönten Film „Leben außer Kontrolle“. Was als Rückblick auf die Anfänge der Gentechnik im Jahr 2004 begann, entpuppte sich in der anschließenden Diskussion mit dem Experten Dr. Christoph Then als beängstigend aktueller Weckruf.
Die Filmreihe, organisiert vom Tutzinger Agraringenieur Gerald A. Herrmann, widmet sich den großen Zukunftsfragen unserer Ernährung und Landwirtschaft. Dass das Thema „Gentechnik“ dabei keineswegs ein Relikt der Vergangenheit ist, wurde schnell deutlich. Der Film führte eindrücklich vor Augen, wie globale Konzerne bereits vor zwei Jahrzehnten begannen, sich die Grundlagen des Lebens patentieren zu lassen – mit verheerenden Folgen für die Artenvielfalt und die Unabhängigkeit von Bauern weltweit.
Ein Dejà-vu der besonderen Art
Doch die eigentliche Brisanz der Matinee lag im Hier und Jetzt. Im Anschluss an den Film ordnete Dr. Christoph Then, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Direktor von Testbiotech e.V., das Gesehene in die aktuelle politische Lage ein. Seine Analyse: Der Kampf um die Kontrolle über unser Essen geht gerade in die entscheidende Runde – weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit.
Die neue Gentechnik: Deregulierung durch die Hintertür?
Gerald A. Herrmann und Dr. Then erläuterten den Zuschauern die laufenden „Trilog-Verhandlungen“ auf EU-Ebene. Kern der Debatte ist der Umgang mit der sogenannten „Neuen Gentechnik“ (NGT), etwa Verfahren wie der Genschere CRISPR/Cas. Der Experte warnte eindringlich vor dem aktuellen Vorschlag der EU-Kommission, der auf eine weitgehende Deregulierung hinauslaufe.
Besonders schockierend für viele Anwesende waren die technischen Details, die politisch weitreichende Folgen haben:
• Die willkürliche Grenze: Geplant ist, Pflanzen mit bis zu 20 genetischen Veränderungen (Nukleotiden) aus der strengen Regulierung zu entlassen. Dr. Then kritisierte diese Grenze als wissenschaftlich nicht haltbar. Auch kleine Veränderungen können radikale Auswirkungen auf die Eigenschaften eines Organismus haben.
• Verlust der Wahlfreiheit: Fallen diese Pflanzen aus der Regulierung, entfällt auch die Kennzeichnungspflicht. Verbraucher könnten im Supermarkt nicht mehr erkennen, ob sie Gentechnik kaufen oder nicht.
• Gefahr für die Koexistenz: Für die biologische und konventionelle gentechnikfreie Landwirtschaft stünde „Existenzielles auf dem Spiel“, so Then. Eine Kontamination durch Pollenflug wäre kaum zu verhindern, wenn Deregulierung und fehlende Nachverfolgbarkeit Tür und Tor öffnen.
• Fehlende Risikoprüfung: Über 90 Prozent der neuen NGT-Pflanzen müssten nach den Plänen der Kommission keine umfassende Risikobewertung mehr durchlaufen, bevor sie in die Umwelt entlassen werden.
• Kombination mit künstlicher Intelligenz: Mit Hilfe der KI lassen sich schnell und umfangreich unendlich viele genetische Veränderungen konzipieren und strategisch implementieren, so etwa, die Zahl der Veränderungen unter die kritische Grenze von 20 zu beschränken.
• Patentierung: Die rasante Beschleunigung von Methodik und gentechnischen Veränderungen wird die jahrzigtausendlange Auslese und Züchtung durch Bauern beenden. Denn diesen wird nicht nur "ihr" Saatgut aus der Hand genommen, sie haben auch weder die Mittel noch die Finanzen, um in diesem Wettbewerb zu bestehen. Die Saatgutindustrie wird damit weitgehend über unsere Nahrung bestimmen.
Publikum zeigt sich alarmiert
Die Ausführungen von Dr. Then lösten eine intensive, über einstündige Diskussion aus. Viele Besucher zeigten sich bestürzt darüber, dass ein Thema von solch immenser Tragweite – die irreversible Veränderung unseres Ökosystems und der Verlust der Transparenz – in den Medien derzeit kaum präsent ist. Die Sorge war greifbar: Wenn diese Gesetze verabschiedet werden, gibt es kein Zurück mehr.
Die Veranstaltung machte deutlich: Transparenz und Wahlfreiheit sind hohe Güter, die verteidigt werden müssen. Die Reihe „Bauern, Brot und Zukunft“ hat einmal mehr bewiesen, dass sie nicht nur Filme zeigt, sondern den Finger in die Wunden der aktuellen Agrarpolitik legt und einen unverzichtbaren Raum für kritischen Diskurs in Tutzing bietet.
Fortsetzung der Reihe am 18. April 2026
Der nächste Film in der Dokureihe „Bauern, Brot und Zukunft“ wird am Samstag, den 18.4.2026 um 19:45 gezeigt. Anschließend an den Film „Wurzeln des Überlebens“ findet ein Filmgespräch mit dem Regisseur Bertram Verhaag statt, moderiert von Gerald A. Herrmann. Es ist eine Ehre, dass Bertram Verhaag für diesen Termin zur Verfügung steht. Herr Verhaag wird seine Motivation als Dokumentarfilmer und seine besondere Art, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und selbst sprechen zu lassen, vorstellen.
Worum geht es in „Wurzeln des Überlebens“
„Wir zeigen in unserem Film „Wurzeln des Überlebens“ einen Reigen von Menschen, die das Wissen um biologischen Anbau nicht nur praktizieren, sondern voranbringen. Fünf Bauern öffnen uns ihren Hof: Präparate Herstellung bei biologisch-dynamischem Anbau, muttergebundene Kälberhaltung, Zweinutzungshühner, Agroforstsysteme und die Zucht und Archivierung von 3000 Tomatensorten. Zusammen entsteht so ein Bild eines Weltbauernhofes, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit biologischen Mitteln gewachsen ist.
Damit wir aber nicht vergessen, dass es in vielen Bereichen schon 5 vor 12 ist, durchwebt den Film ein theatralisch dramatisierter Text von Franz Hohler: „DER WELTUNTERGANG“. In ihm wird erläutert, wie durch das Verschwinden eines winzig kleinen Käfers auf einer winzig kleinen Südseeinsel der gesamten Menschheit der Weltuntergang droht.
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