
Viele Menschen in Deutschland wissen wenig über den Nationalsozialismus. Darauf hat Udo Hahn, der Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, heute besorgt bei einer von der Gemeinde veranstalteten Gedenkfeier für die Opfer des Häftlingstransports vor 80 Jahren hingewiesen. Angesichts des Erstarkens von rechtsextremen Denkweisen, von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus werfe dies Fragen auf. Zum ersten Mal befürworte eine knappe Mehrheit befragter Personen, einen „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit zu ziehen. Über die Hälfte der Befragten gebe an, wenig oder überhaupt nichts über die NS-Geschichte am eigenen Wohnort zu wissen.
Die Nazis ließen in den letzten April-Tagen 1945 die Konzentrationslager räumen. Am 25. April 1945 wurden 3600 Häftlinge aus den vier Lagern des KZ-Komplexes Mühldorf in einen Zug in Richtung München verladen, der irrtümlich von aliierten Tieffliegern beschossen wurde. Auf dem Weg wurde der Zug getrennt. Ein Teilzug fuhr über Wolfratshausen und Bichl bis Seeshaupt und Bernried. Am 30. April wurden die Mühldorfer Häftlinge von amerikanischen Truppen befreit. 1500 Menschen kamen nach Tutzing. Für sie wurden Hilfsmaßnahmen eingeleitet, so vom Kloster und von Einheimischen. Im Zug wurden 54 Leichen gezählt. Sie wurden im Ort beerdigt. Nur von 17 dieser Menschen waren damals die Namen bekannt, von weiteren sieben konnte später die Identität geklärt werden. Die Identität weiterer von ihnen konnte später geklärt werden. Über lange Zeit erinnerte nichts mehr an ihr grauenvolles Schicksal. Im September 2011 ließ der damalige Bürgermeister Dr. Stephan Wanner am Neuen Friedhof in Tutzing einen Gedenkstein für sie aufstellen. Bei der Einweihung des Denkmals sprachen zwei Überlebende des Zugs, Max Mannheimer (1920-2016) und Leslie Schwartz (1930-2020). Max Mannheimer sagte damals: „Mit diesem von Tutzing ausgehenden Signal gegen das Vergessen widersprechen Sie all jenen, die immer wieder einen Schlussstrich fordern." Leslie Schwartz berichtete: "Tatsächlich war ich am Ende des Krieges kaum als menschliches Wesen wiederzuerkennen." Er habe weniger als 40 Kilogramm gewogen und in seinem Gesicht eine offene Wunde gehabt: "Ein Mitglied einer SS-Einheit hat mir während des ,Massakers von Poing’ einen Genickschuss versetzt.“
"Eine Aufgabe, die nie endet"
Rede von Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, bei der Gedenkfeier
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Als Adolf Hitler Ende Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, dauerte es keine fünf Wochen, bis das erste Konzentrationslager eröffnet wurde – das KZ Nohra bei Weimar. Und am 15. März 1933 kam als zweites das KZ Dachau hinzu. In diesen Tagen erinnern wir an die Befreiung zahlreicher Konzentrationslager, darunter auch Dachau. Planvoll eingesetzt, funktionierte diese Vernichtungsmaschinerie auch dann noch, als das NS-Regime längst besiegt war. Mehr noch wurden mit den Todesmärschen die nationalsozialistischen Verbrechen an den KZ-Häftlingen mitten in die deutsche Gesellschaft getragen. Nicht nur in den befreiten Lagern, sondern auch auf Landstraßen und in Dörfern wurde deutlich, dass hier Vergehen ungeahnten Ausmaßes begangen worden waren.
Das Gedenken an die Gräuel der Diktatur des Nationalsozialismus ist seither davon geprägt, Unrecht aufzuarbeiten, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und unsere Verantwortung heute zu bestimmen. Eine Aufgabe, die nie endet.
Die über die Jahrzehnte auf- und ausgebaute Erinnerungskultur in Deutschland – einschließlich aller Bildungsaktivitäten und zivilgesellschaftlicher Initiativen – wirft jedoch angesichts des Erstarkens von rechtsextremen Denkweisen, von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus Fragen auf.
So lässt das gerade veröffentlichte Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung zum kritischen Geschichtsbewusstsein und der Erinnerungskultur in Deutschland aufhorchen. Demnach weisen die Kenntnisse der Menschen in Deutschland über den Nationalsozialismus teilweise große Lücken auf. Zudem befürwortet zum ersten Mal eine knappe Mehrheit der Befragten (38,1 Prozent), einen „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit zu ziehen. Über die Hälfte der Befragten gibt an, wenig oder überhaupt nichts über die NS-Geschichte am eigenen Wohnort zu wissen. Nur etwa ein Drittel kann grob erklären, was im Kontext der NS-Zeit unter dem Begriff „Euthanasie“, also der gezielten Ermordung Kranker, zu verstehen ist. Etwa drei Viertel der Befragten können keine realistischen Einschätzungen zu Opferzahlen geben. Dies betrifft auch die Anzahl der ermordeten Sinti und Roma oder die Zahl der eingesetzten Zwangsarbeiter.
Ermutigend finde ich, dass fast 40 Prozent der Befragten angeben, sie könnten etwas für die Erinnerungsarbeit tun. In dieser Bereitschaft steckt eine Chance. Interesse zu wecken, sich ein eigenes Bild zu machen und Spuren vor Ort nachzugehen, das scheint mir der vielleicht wichtigste Baustein einer Bildungsarbeit, um zu verhindern, dass u.a. der Zivilisationsbruch der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden und zahllose weitere Verbrechen durch rechtsextreme Rattenfänger verharmlost werden.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der evangelische Theologe Martin Niemöller hat diese Frage 1946 im Lichte eigener, leidvoller Erfahrungen beantwortet. Er ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten des kirchlichen Widerstands gewesen, war verhaftet worden und als „persönlicher Gefangener“ Adolf Hitlers zunächst im KZ Sachsenhausen und dann bis zum Kriegsende im KZ Dachau interniert worden. Er sagte: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Die Frage „Wie konnte es so weit kommen?“ muss in jeder Generation neu gestellt werden. Sie ist für die Demokratie überlebenswichtig. Kompromissbereitschaft, Gemeinsinn und Zusammenhalt müssen die bestimmenden Kräfte bleiben und nicht Ausgrenzung, Abwertung und Hass. Jede und jeder unter uns hat Verantwortung. Wir müssen bereit sein, sie zu übernehmen. Jetzt!
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