Bauplanung
21.11.2024
Von Lorenz Goslich

„Häuser werden viel zu schnell abgebrochen“

Beim „baukulturellen Quartett“ in Tutzing gab es viele Plädoyers für Erhaltung älterer Gebäude

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Wertvolles im Wohnhaus Walch an der Tutzinger Boeckelerstraße: Wagnerfenster wurden erhalten © Judith Resch

Das Wohnhaus Walch in Tutzing in der Boeckelerstraße stammt aus dem Jahr 1957. Seine alten vergitterten Fenster sollten im Zuge einer Sanierung entfernt werden. Aber Judith Resch, Architektin und Schreinerin aus Seeshaupt, erkannte schnell, dass da etwas Wertvolles beseitigt werden sollte. Es waren nämlich so genannte Wagnerfenster. Sie gehören zur Kategorie der Verbundfenster – und die galten als die energieeffizientesten, nutzerfreundlichsten und kostengünstigsten Fenster, bevor in den 1970er Jahren Isolierglasfenster marktreif wurden. Verbundfenster sind nach Überzeugung vieler Fachleute dauerhaft und gut für energetische Verbesserungen geeignet. Beim Wohnhaus in der Boeckelerstraße hat Judith Resch ein Konzept erarbeitet, mit dem die Wagnerfenster nicht nur erhalten, sondern auch für aktuelle Anforderungen gestaltet werden konnten. Ihre Energiebilanz sei sogar besser als die vieler neuen Fenster, sagte die Architektin kürzlich bei der Veranstaltung „Das baukulturelle Quartett im Tutzinger Kulturtheater.

Guter Besuch belegte hohes Interesse an diesem Thema, das das „Bauen damals und heute“ beleuchtete und „Bewahren vs. Wachstum“ stellte. Ins "Kulturtheater", das frühere Kurtheater, hatte Stefanie Knittl eingeladen, die aus der über Generationen aktiven Tutzinger Baumeisterfamilie Knittl stammt und in ihrem Buch „Häuser erzählen Geschichten“ eine Fülle interessanter Beispiele zur Baukultur in der hiesigen Region zusammengefasst hat. „Wenn ein altes Haus abgerissen wird, ist es unwiderruflich verloren“, beklagte sie. Im Bauausschuss des Tutzinger Gemeinderats, dem sie für die SPD angehört, sei oft die Rede von „Ersatzbauten“. Dahinter stehe die Vermutung, es werde etwas Neues entstehen, das so ähnlich ausschaue wie das Alte, aber nach modernen Maßstäben errichtet werde. „Das ist eine Irreführung“, kritisierte sie. Früher habe man mit wenig Arbeitsteilung und sehr hochwertigen Materialien „im Prinzip für die Ewigkeit“ gebaut – heute baue man vielleicht für eine Generation.

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Das Tutzinger Kino "Kurtheater" in der Anfangszeit, als sein Eingang noch von der Kirchenstraße aus war © Archiv Knittl
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Erinnerungen ans alte Kurtheater

Etliche Beispiele aus Tutzing zeigte Stefanie Knittl in Bildern – als erstes das Kur- oder neuerdings Kulturtheater, wie es früher aussah. „Eine richtige Fünfziger-Jahre-Peitsche“, kommentierte sie schmunzelnd. Sie erinnerte sich an den Film „La Boum – die Fete“, der 1980 im Tutzinger Kino lief: „Da gab es den alten Eingang noch.“ Im Saal befinde sich „echte Siebziger-Jahre-Einrichtung“, und die Lampen seien noch aus den 1950er Jahren.

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Weitere Tutzinger Beispiele siehe unten auf dieser Seite

Als Ästhetik und Außenwirkung im Vordergrund standen

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Engagierte Diskussion eines baukulturellen Quartetts im Tutzinger Kulturtheater: (von links) Martin Büscher, Judith Resch, Stefanie Knittl und Christine Paxmann © L.G.

„Ein Haus ist ein Wert“, betonte der Architekt Martin Büscher, der in Tutzing wohnt und sein Büro in München betreibt: „Weil man erkennt, dass die Menschen damals mit großer Sorgfalt gebaut haben.“ Man müsse viel mehr prüfen, was man mit Abbrüchen zerstöre und was damit verlorengehe. Eigentlich gebe es eine große Sehnsucht nach dem Alten. Schon die heute niedrigeren Raumhöhen – maximal 2,50 Meter gegenüber früher mehr als drei Metern - sorgten für eine gewisse Beklemmung.

Vieles könne man an kleinen Dingen erkennen, sagte Stefanie Knittl. Sie erwähnte die wichtige Rolle des Baumeisters und eine geringere Arbeitsteilung früher. Handwerker seien Künstler am Bau gewesen, Vieles sei mit der Hand gemacht worden, unter Verwendung hochwertiger und wiederverwendbarer Baumaterialien. Die Grundstücke seien im Verhältnis zu den Baukosten billig, der Bau hochwertig gewesen: „Ästhetik und Außenwirkung standen im Vordergrund mit großen Parks und Gärten.“ Heute dagegen dominierten Gewinnmaximierung und baurechtliche Überregulierung.

Die Tutzingerin erinnert sich noch gut an Erlebnisse im Baugeschäft ihrer Eltern: „Man hat genau unterscheiden können, wer welchen Putz gemacht hat.“ In den 1970er Jahren habe es eine Zäsur gegeben: „Da kam der Maschinenputz.“ Mit ihm, sagte sie, bekamen die Fassaden einheitliche Strukturen: „Das empfanden wir als seelenlos.“ Ein altes Tutzinger Gebäude, das einst ein Pferdestall, dann ein Arbeiterhäusel und schließlich die legendäre „Schwarze Gans“ war, hat Stefanie Knittl in einem neuen Buch aus der Perspektive des Hauses beschrieben. Die legendäre "Schwarze Gans" „Das habe ich noch nie gesehen“, kommentierte Judith Resch sichtlich beeindruckt. Es sei ein bemerkenswertes Stilmittel, das beim Lesen ein Gespür für Baukultur vermittle.

Umbauten sehen viele positiv - aber sie erkennen kein Gestaltungspotenzial

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Nachdenkliche Architekten: Judith Resch und Martin Büscher © L.G.

Vier von fünf Befragten empfinden Umbau als etwas Positives, wie sich aus einer Bevölkerungsbefragung zum Baukulturbericht 2022/23 ergeben hat. Doch häufig werden dann doch alte Gebäude abgebrochen und Neubauten vorgezogen. Nur jeder Zehnte sieht beim Umbau Gestaltungspotenzial, wie aus der Befragung trotz der generell positiven Haltung gegenüber Umbauten hervorgeht.

Die Leidenschaft für Gebäude scheine nicht mehr da zu sein, meinte Büscher: „Deshalb sind wir enttäuscht von dem, was heute entsteht.“ Eine wichtige Aufgabe von Architekten sieht er gerade auch darin, den Gebäuden aus früheren Zeiten den Gestaltungswillen unserer Zeit zu geben.

Es werde aber viel zu schnell davon gesprochen, dass man ein Haus abreißen muss, kritisierte Judith Resch. „Im Umbau steckt positives Potenzial.“ Als Beispiele erwähnte sie das Wohnhaus in der Tutzinger Boeckelerstraße und einen alten Bauernhof in Weilheim, den sie behutsam neu gestaltet hat. Auf Fragen nach den Kosten sagte sie am Beispiel der Fenster, deren Ertüchtigung sei sogar oft billiger als der Einbau neuer Fenster, obwohl Kunststofffenster im Einkauf günstiger seien. Zudem könne man bei denkmalgeschützten Häusern Fördermittel bekommen. „Es ist immer sinnvoller, ein Holzfenster zu erhalten, als es durch ein Kunststofffenster zu ersetzen“, bekräftigte sie.

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Aus alt mach neu: Ein denkmalgeschützter Bauernhof in Weilheim in der Oberen Stadt © Judith Resch

„Die Leute, die etwas erhalten wollen, sind immer die Deppen"

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Kritische Beobachter der Baukultur: Stefanie Knittl (links) und Christine Paxmann © L.G.

Mit häufigen Besitzwechseln von Gebäuden verschwinden häufig die Altbauten, meinte die Moderatorin Christine Paxmann, die in München eine Agentur zur Konzeption von Büchern betreibt. Ob man da politisch gegensteuern könne? Das Finanzamt interessiere sich nicht dafür, ob ein Altbau erhalten werde oder nicht, erwiderte Stefanie Knittl: „Die Erbschaftsteuer bleibt ja gleich.“ Diejenigen, die ein Haus erhalten, müssten ihrer Meinung nach eigentlich belohnt werden.

Es müsse sich lohnen, ein baukulturelles Erbe zu erhalten, forderte auch Judith Resch. „Aber jeder Steuerberater sagt, mit einem Neubau ist man auf der entspannten Seite“, sagte Stefanie Knittl. Die ganze Politik sei auf Neubau ausgerichtet, beklagte sie, und sehr deutlich fügte sie hinzu: „Die Leute, die etwas erhalten wollen, sind immer die Deppen.“ Andere Richtlinien in der Bauleitplanung hielte Büscher für notwendig. Sinnvoll wären seiner Meinung nach zum Beispiel Befreiungen beim Abstandsflächenrecht unter der Voraussetzung, dass ein bestehendes Gebäude erhalten wird.

Ob der Denkmalschutz zu zahnlos sei, fragte Christine Paxmann. „Ich bin ein Fan des Denkmalschutzes“, antwortete Stefanie Knittl, bestätigte aber, dass er in den vergangenen Jahren „sehr zahnlos“ geworden sei. Private Häuser würden kaum noch unter Denkmalschutz gestellt: „Ich habe die Vermutung, dass da Absicht dahinter ist.“ In den Denkmalschutz werde zu wenig Geld gesteckt. Vielleicht sei ein anderes baukulturelles Denken erforderlich, meinte Judith Resch. Der Denkmalschutz sei besser als sein Ruf, wandte Büscher ein. Beim Denkmalamt agierten häufig sehr erfahrene und kompetente Mitarbeiter: „Das sind angenehme Leute, die wollen einen nicht quälen, sondern versuchen das Beste zu erreichen.“ In der Regel finde man immer einen für das betreffende Gebäude angemessenen Weg.

Einige Erwartungen werden mit einem "Gebäudetyp E" verbunden, der den Wohnungsbau einfacher, schneller und effizienter machen soll. Zurzeit seien 3700 Normen zu beachten, sage Judith Resch, die man gar nicht mehr überblicken könne. Sie hofft, dass es gelingen wird, den Rahmen der Regeln zu reduzieren, um wieder einfacheres Bauen zu ermöglichen. Ähnlich sah es Büscher, der allerdings Zweifel erkennen ließ: Offenbar sei es ganz schwierig, wieder zu einem normalen Maß zu finden.

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Das Tutzinger "Kulturtheater" bietet auch für Diskussionsveranstaltungen einen ansprechenden Rahmen © L.G.

Seehof und Andechser Hof: "Löcher im Tutzinger Ortskern"

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Kurzweilige Unterbrechung lieferten (von links) Axel Hussner, Rainer Huber und Klaus Sperber © L.G.

Der Hinweis einer Besucherin auf einige „Löcher“ im Tutzinger Ortskern wie Seehof und Andechser Hof brachte keine neuen lokalen Erkenntnisse, aber es gab Fragen nach den Konsequenzen für die Tutzinger Ortsgestaltung. Eine Anwesende zeigte sich überrascht darüber, dass viele alte Häuser nicht denkmalgeschützt sind und abgerissen werden könnten. „Nur ein geringer Teil des Bestands ist denkmalgeschützt“, erwiderte Stefanie Knittl, „der Rest ist ‚Freiwild‘.“ Damit bestehe die Gefahr von Veränderungen hin zum Seelenlosen. Was man tun könne, damit das nicht passiert, wollte Christine Paxmann wissen. Es gebe viele gute Ideen und Ansätze, sagte Büscher – aber auch Interessenskonflikte und zu viele Zwischenstationen ohne ein gemeinsames Ziel. Doch eine gewisse Zuversicht klang durch, dass die erkennbaren Bemühungen in dieser Richtung mehr und mehr Erfolg haben könnten. Der für die Gemeinde Tutzing tätige Stadtplaner Prof. Florian Burgstaller, sagte Büscher, arbeite hochengagiert daran.

Beim „baukulturellen Quartett“ gab es immer wieder unterhaltsame Pausen. Da sorgten die drei Musiker Axel Hussner, Klaus Sperber und Rainer Huber mit flotter jazziger Barmusik für kurzweilige Unterbrechung. „I love you just the way you are“, den Song von Billy Joel, interpretierten sie zum Beispiel einmal - Ich liebe Dich genau so, wie Du bist. Als wäre es eine Hymne für die alten Häuser.

Tutzinger Beispiele

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Über den Autor
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Lorenz Goslich

Wirtschafts- und Lokaljournalist, Diplom-Kaufmann, Dr. oec. publ. Schreibt für diverse Medien und liebt seinen Heimatort Tutzing.

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